Der Verkehr stößt große Mengen an Treibhausgasen aus. Wie kann man angesichts des Klimanotstands dafür sorgen, dass die Verkehrswende und insbesondere die Umstellung auf Elektromobilität massiv an Tempo gewinnt? Welche Rolle spielen die Interessengruppen, Bürger:innen, Unternehmen, Gebietskörperschaften? Was können wir dabei aus der Coronakrise lernen? Denkanstöße von Nicolas Planteau du Maroussem, Leiter der Sparte Infrastructures IDF Nord Est bei VINCI Energies France, und Gabriel Plassat, Mitgründer der Fabrique des mobilités.
Wodurch wird die Verkehrswende derzeit noch ausgebremst? Handelt es sich um ein Angebots- oder um ein Nachfrageproblem? Liegt es an den Infrastrukturen oder am Service?
Nicolas PLANTEAU DU MAROUSSEM. Die Antwort kann je nach Region unterschiedlich ausfallen. Im Großraum Paris gibt es ja bereits seit langem ein reichhaltiges, klimaneutrales Mobilitätsangebot (U-Bahnen, Straßenbahnen, Elektrobusse, Carsharing usw.). Und der Ausbau schreitet weiter voran. Das gilt aber noch längst nicht für alle französischen Regionen. Deshalb fällt auch die Antwort auf „Angebot oder Nachfrage“ jeweils unterschiedlich aus.
Bei der Elektromobilität gibt es immer noch psychologische Hemmnisse im Zusammenhang mit der Reichweite von Elektroautos. Um die Nutzer:innen zu überzeugen, muss erst das Angebot besser werden – effizientere Infrastruktur, leistungsfähigerer Service. In allen Regionen müssen außerdem neue Angebote entwickelt werden, etwa sanfte Verkehrsträger, Carsharing oder die Mikromobilität. Es muss ein Umdenken stattfinden – das geht nur mit Überzeugungsarbeit.
Gabriel PLASSAT. Das Problem wird allgemein zu sehr von der Angebotsseite her angegangen und nicht ausreichend von der Nachfrageseite. Letztlich befassen wir uns recht wenig mit den Anwendungsmöglichkeiten, dem Bedarf und den Gewohnheiten der Bürger:innen in Sachen Mobilität. Die Antwort muss also sowohl „Angebot und Nachfrage“ heißen als auch „Infrastruktur und Service“.
Aber es gibt noch ein weiteres Thema – die Finanzierung. Niemand zahlt den wahren Preis seiner Mobilität! Kaum jemand kennt die Finanzierungsprinzipien und Kosten der verschiedenen Angebote. Alle diese Themen bremsen die Verkehrswende aus. In Wirklichkeit hat sich bisher bei der Mobilität kaum etwas verändert.
Was sind also die wichtigsten Faktoren, um die Verkehrswende zu beschleunigen?
Gabriel PLASSAT. Wegen Corona sind in manchen Städten viele Leute aufs Fahrrad umgestiegen. Es gibt also Zwänge, die sich günstig auf Verhaltens- und Nutzungsänderungen auswirken… Die Elektromobilität ist eine weitere Chance, allerdings auf Grundlage eines negativen Anreizes: Das Verbot des Verbrennungsmotors zieht neue Marktteilnehmer:innen an, finanzkräftige Industriefirmen. Die Kräfteverhältnisse ändern sich, und mit ihnen das Waren- und Dienstleistungsangebot.
Ein weiterer Schlüsselfaktor ist natürlich die Digitalisierung, die für veränderte Nutzungsgewohnheiten sorgt. Das Smartphone wird heutzutage als Mobilitätsassistent eingesetzt und kann bisweilen sogar zum Aufschließen von Fahrzeugen benutzt werden, die man nicht mehr kauft, sondern für deren Nutzung man entfernungsabhängig bezahlt.
Nicolas PLANTEAU DU MAROUSSEM. Die Effizienz dieser klimaneutralen Mobilitätsträger, etwa der öffentlichen Verkehrsmittel, muss viel stärker in den Vordergrund gerückt werden – sie sind nämlich sehr effizient. Das Umweltbewusstsein wächst. Ich stelle unter anderem fest, dass immer mehr Unternehmen ihre Mitarbeitenden sensibilisieren und über ihren Mobilitätsplan nachdenken. All das ist geeignet, bestimmte Hindernisse abzubauen.
Es ist viel vom Energiemix die Rede. Was wäre denn der richtige Verkehrsträger-Mix?
Nicolas PLANTEAU DU MAROUSSEM. Früher hat man sein Auto auf den Maximalbedarf ausgelegt – die gesamte Familie samt Gepäck sollte hineinpassen und 800 km weit in Urlaub fahren können. Aber gebraucht werden diese Kapazitäten ja nicht tagtäglich, noch nicht einmal jede Woche!
Deshalb müssten wir unsere Verkehrsmittel auf die häufigsten Fahrten auslegen. In den allermeisten Fällen sind diese Wege hervorragend zu Fuß, mit dem Rad, dem Elektroauto, dem ÖPNV oder sonstigen CO2-armen Verkehrsträgern zu bewältigen!
Gabriel PLASSAT. Wir sprechen von einem sogenannten MaaS-Konzept (Mobility as a Service). Auch hier gibt es bereits sehr schlagkräftige Anbieter:innen, die gar kein Interesse mehr daran haben, dass die Leute mit ihrem eigenen Autoschlüssel in der Tasche herumlaufen. Sie verkaufen Mobilität, abgerechnet wird nutzungsabhängig.
In der Fabrique des mobilités arbeiten wir an einem Projekt: MOB, ein „Mobilitätskonto“, mit dem jede:r auf die eigenen Mobilitätsdaten zugreifen und Anreize bekommen kann, die zur eigenen Lebenswirklichkeit passen. So wird der Fokus vom Kauf eines Gegenstandes auf die tatsächlich gelebte Mobilität verschoben.
Bedeutet eine nachhaltigere Mobilität automatisch auch weniger Mobilität?
Gabriel PLASSAT. Man bezeichnet das als Demobilität. Richtig zu Ende gedacht ist das aber nicht. Die Meinungen sind da sehr geteilt, von wegen „freie Fahrt für freie Bürger“. Aber in Wahrheit stehen die Leute dann wieder eine Stunde im Stau. Die richtigen Verkehrsträger in der richtigen Dosis, darum geht es. Allerdings gibt es keinerlei Industriefirmen, die sich die Demobilität auf die Fahnen geschrieben hätten.
Bei „La Fabrique de la mobilité“ arbeiten wir an dieser Idee. Ein Beispiel: In jeder Region werden Servicehubs eingerichtet und so vernetzt, dass die Leute für personennahe und öffentliche Dienstleistungen keine weiten Fahrten mehr auf sich nehmen müssen. Diese Hubs könnten sogar mobil sein und bedarfsgerecht jeden Tag ein anderes Ziel anfahren.
Nicolas PLANTEAU DU MAROUSSEM. Das Konzept der Demobilität wird nur funktionieren, wenn es den Alltag nachweislich angenehmer macht. Insbesondere in den Metropolen kommen Konzepte wie die „Viertelstunden-Stadt“ auf, wo alle Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs in unter 15 Minuten erreichbar sind.
Welche Rolle spielen die verschiedenen Akteur:innen, Transportfirmen, Unternehmen, Bürger:innen, um für weniger Verkehr zu sorgen?
Gabriel PLASSAT. Dazu beitragen können Feldversuche wie etwa das „Stadtradeln“, wo alternative Möglichkeiten getestet werden, um zur Arbeit zu kommen. Der Zweckverband Grand Paris Seine & Oise hat ein Hub-Netzwerk getestet. Dieses Hub-Netzwerk wollen wir versuchen zu standardisieren. Sie sollen die Mobilität reduzieren und leicht zu implementieren sein.
Wie können Digitalisierung und allgemein die Smart City für eine schnellere Umsetzung dieser neuen, diversifizierten, nachhaltigen Mobilität sorgen?
Nicolas PLANTEAU DU MAROUSSEM. Die Digitalisierung sorgt, wie in vielen anderen Sektoren auch, für eine leichtere Umsetzung der Verkehrswende – durch den Echtzeiteffekt, diverse Apps und Vermittlungsfunktionen. Im städtischen Raum sieht man das schon: es gibt neue Formen der Mikromobilität, Carsharing, Fahrgemeinschaften, Mobilitätsdienstleister:innen und Mobility as a Service.
Wir arbeiten derzeit an einer Ausschreibung für eine Kommune, die klimaneutral werden möchte. Sie setzt voll und ganz auf einen möglichst CO2-freien Mobilitätsservice. Die Digitalisierung bietet hier eine entscheidende Hilfestellung.
Gabriel PLASSAT. Durch die Digitalisierung können wir die Dinge ganz anders organisieren. Das führt aber auch zu neuen Problemen – etwa Datenspeicherung und Vertraulichkeit. Wenn es um Mobilitätsgewohnheiten geht, verfügen manche privaten Anbieter:innen über mehr Daten als die für die Mobilitätsangebote in ihrem Bereich zuständigen Gebietskörperschaften… die Frage der Datenhoheit muss hier besser austariert werden. In der Coronakrise haben wir gesehen, wie wichtig, aber auch wie heikel Rückverfolgbarkeit und Überwachung sind. Also müssen wir Mittel und Wege finden, um digitale Daten als Entscheidungsgrundlage nutzen und gleichzeitig die Privatsphäre schützen und wahren zu können.
Nicolas PLANTEAU DU MAROUSSEM. Ich möchte auch auf das Thema Cybersicherheit eingehen. Wenn digitale Systeme eine so zentrale Rolle spielen, können Sicherheitslücken von Verbrecherorganisationen als Einfallstor benutzt werden.
Reden wir über die Auswirkungen der Coronakrise. Seit einem Jahr stellt sich ein neues Gleichgewicht zwischen Stadt und Land ein. Hat das auch Auswirkungen auf die Verkehrswende?
Gabriel PLASSAT. Langfristige Vorhersagen sind schwierig. Aber unsere bisherigen Erfahrungen sind interessant, denn erstmals hatten wir es mit etwas zu tun, was man als „nachhaltige Mindestmobilität“ bezeichnen könnte. Was brauchen wir mindestens, damit eine Region, eine Gemeinde, ein Stadtviertel, ein Haushalt bestehen kann? Ausgangspunkt aller Mobilitätslösungen müssen die Aktivitäten der einzelnen Bürger:innen sein. Die Region muss dann für möglichst bürgernahe Services sorgen, um die notwendigen Fahrten auf ein Mindestmaß zu reduzieren.
Nicolas PLANTEAU DU MAROUSSEM. Es kann positive, aber auch negative Auswirkungen geben. Die Entzerrung des städtischen Raums führt dazu, dass die einzelnen Bürger:innen längere Fahrten auf sich nehmen müssen, um Dienstleistungen zu nutzen. Und Elektroautos sind eher für den Stadtrand oder ländliche Gebiete geeignet. Denn dort kann das Fahrzeug zuhause geladen werden, und die zurückgelegten Strecken sind gleichzeitig lang genug, dass die Umstellung auf Elektroantrieb tatsächlich zu nennenswerten Emissionssenkungen führt.
Gabriel PLASSAT. Sicher, allerdings sollte man im Hinterkopf behalten, dass viele Haushalte weder beim Wohnort noch beim Arbeitsplatz die Wahl haben und deshalb häufig auf das Auto angewiesen sind. Wir müssen in Erfahrung bringen, um welche Haushalte es sich dabei handelt, um sie dann bei der Umstellung unterstützen zu können.
08/07/2021