Die seit dem 25. Mai 2018 geltende Datenschutzgrundverordnung sieht sehr restriktive Regelungen zur Gesichtserkennung in europäischen Städten vor. So restriktiv, dass sie die Entwicklung der Smart City verhindert? Im Gegenteil, antwortet Cécile Maisonneuve, Vorsitzende der „Fabrique de la Cité“: Europa schafft einen Diskussionsrahmen, der die Städte vor einer Beschneidung der bürgerlichen Freiheiten schützt, ihnen aber gleichzeitig die Möglichkeit zur aktiven Befassung mit dem Thema bietet.
Inwiefern lässt die Diskussion zum Thema Gesichtserkennung die Smart City in einem neuen Licht erscheinen?
Cécile Maisonneuve. Sagen wir einmal, dass die Smart City, die viele bisher für ein abstraktes Hirngespinst hielten, durch diese Debatte plötzlich fassbar wird. Warum hat das Thema Gesichtserkennung denn ein solches Echo in Politik und Medien ausgelöst? Weil es in hohem Maße mit Fragen der Sicherheit und der bürgerlichen Freiheiten verknüpft ist. Dadurch wird es für uns alle zu einem äußerst heiklen und gleichzeitig äußerst konkreten Thema.
Gibt es bei dieser Diskussion nicht zwei Lager, zwei Visionen, die sich gegenüberstehen?
C.M. Es scheint sich auf alle Fälle eine Bruchlinie zwischen China und dem Rest der Welt abzuzeichnen. Einerseits China mit seinen freiheitsbeschneidenden Praktiken, das die Gesichtserkennung durch sein Sozialkredit-System zu einem Kernaspekt des öffentlichen Raums und des gesellschaftlichen Lebens gemacht hat. Auf der anderen Seite westliche Metropolen, welche die Bearbeitung biometrischer Daten durch die KI nach ethischen Gesichtspunkten beurteilen.
Aber die Antwort des Westens lautet nicht überall gleich…
C.M. Die meisten sind erst einmal vorsichtig und warten ab: „Wir sind noch nicht für die Umsetzung eines Modells mit vielen ungelösten methodologischen Fragen bereit, insbesondere hinsichtlich der Speicherung von Geschlecht und ethnischer Herkunft“, lautet ihre Grundaussage. San Francisco war eine der ersten Metropolen, die ein Moratorium zu diesem Thema verhängt hat. Weitere amerikanische Großstädte und sogar Bundesstaaten folgten auf dem Fuße. Andere Städte wie Berlin, London oder Nizza setzten hingegen auf Gesichtserkennung und rechtfertigten dies mit der erforderlichen Vorabzustimmung der Bürger sowie mit dem Dauerargument Verbesserung der Sicherheit. Dabei gibt es bis heute keine Studien, welche diesen vorgeblichen Zusammenhang zwischen Videoüberwachung und mehr Sicherheit bzw. weniger Unsicherheit untermauern. Auch die Tatsachen sprechen leider eine andere Sprache.
Sie sind also der Ansicht, dass es diese Bruchlinie zwischen China und dem Westen gar nicht gibt?
C.M. Diese Unterteilung in zwei Lager leugnet die juristische Realität. Genauso gut könnte man behaupten, dass wir alle dasselbe Rechtssystem haben, weil wir Teil einer gemeinsamen demokratischen Welt sind. Dabei verfügt Europa anders als die USA über ein spezifisches Rechtsinstrument, das auf den äußerst strengen Schutz personenbezogener Daten und des Privatlebens abzielt: die am 25. Mai 2018 in Kraft getretene Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Dieses Instrument zeigt, dass man diesseits und jenseits des Atlantiks völlig unterschiedliche Ansätze hinsichtlich personenbezogener Daten verfolgt: Es gibt in Amerika keine CNIL [französische Datenschutzbehörde, AdÜ], und das hat seinen Grund: Daten werden dort hauptsächlich aus dem Blickwinkel ihres kommerziellen Werts betrachtet. In Europa ist das ganz anders: Personenbezogene Daten unterliegen spezifischen Gesetzen im Rahmen der verfassungsrechtlich garantierten bürgerlichen Grundfreiheiten.
Was besagt die DSGVO?
C.M. Was unser Thema hier angeht, verbietet sie grundsätzlich das Sammeln biometrischer Daten im öffentlichen Raum. Allerdings sieht sie Ausnahmen vor. Einerseits kann ein Mitgliedstaat „aus wichtigen Gründen im öffentlichen Interesse“, insbesondere im Zusammenhang mit Sicherheitskriterien, eine Ausnahmeregelung festlegen. Andererseits ist die Datenerfassung zulässig, wenn die betroffenen Personen vorab zustimmen – im öffentlichen Raum stößt das selbstverständlich auf gewisse Schwierigkeiten. Auf Grundlage dieses zweiten Ausnahmetatbestands wurden beispielsweise die Tests in Nizza durchgeführt. Im Falle eines Opt-in schreibt die DSGVO allerdings eine Folgenabschätzung vor. Wenn diese ein erhöhtes Risiko für die Bürger nachweist, müssen die Genehmigungsbehörden um Stellungnahme ersucht werden – die französische CNIL hat das Experiment von Nizza übrigens kritisiert. Es kann auch eine Stellungnahme der betroffenen Personen oder ihrer Stellvertreter angefordert werden.
Hemmt dieser restriktive und gleichzeitig komplexe gesetzliche Rahmen der DSGVO nicht die Innovationskraft?
„Die DSGVO ist sicher nicht perfekt, hat aber den riesigen Vorteil, dass sie den notwendigen Rahmen für eine konstruktive Debatte vorgibt.“
C.M. Eine der Begrenzungen der DSGVO ist, dass sie kein grundsätzliches Erprobungsrecht einräumt. Aber in Frankreich wie anderswo kann der nationale Gesetzgeber auf Grundlage der DSGVO Städten erlauben, Innovationen zu testen. Die DSGVO ist sicher nicht perfekt, hat aber den riesigen Vorteil, dass sie den notwendigen Rahmen für eine konstruktive Debatte vorgibt. Sie soll schützen, nicht den Fortschritt behindern.
Nehmen wir den Grundsatz der vorherigen Zustimmung der betroffenen Personen – im öffentlichen Raum führt das nach Ihren Worten zu Problemen. Laut Google lässt sich dieses Prinzip technisch schlichtweg nicht umsetzen.
C.M. Google möchte ein Stadtviertel bauen, das von Anfang an mit einer digitalen Schicht geplant wird. Das Problem in der Datenwelt ist, dass die Internetriesen sich sowohl als Theoretiker, Hersteller wie auch als Regulierer sehen – insbesondere Google. Sie wollen die Konzepte definieren, die Regeln festlegen und dann selbst über deren Anwendung entscheiden! Dieses faktische Monopol muss dringend gebrochen werden, wir brauchen eine breite Bürgerdebatte, müssen die bestehenden Postulate hinterfragen und über den Status des öffentlichen Raums nachdenken. Auch wenn das Thema hochtechnisch ist, dürfen die eminent politischen und demokratischen Inhalte nicht außer Acht gelassen werden. Deshalb müssen wir beim Anonymitätsgrundsatz hart bleiben. Denn eines muss klar sein: Wenn wir das Recht auf Anonymität, dieses während der Aufklärung erdachte philosophische Konzept, in Frage stellen, ist das Leben in der Stadt einfach nicht mehr lebenswert. Was das Leben auf engstem Raum erträglich macht, ist nämlich genau diese Möglichkeit der Anonymität, die trotz aller Nähe eine rettende Distanz schafft.
Ist die DSGVO in Ihren Augen also keineswegs der Sargnagel der Smart City?
C.M. Sie kann sogar das genaue Gegenteil davon sein, wenn wir sie als Grundlage einer vernünftigen, verantwortlichen und konstruktiven Debatte nutzen. Die DSGVO ist eine Chance für die Smart City. Ich denke, dass die Smart City im Grunde genommen nur dann eine Zukunft hat, wenn sie „nachhaltig“ ist. Sozial, politisch, aber auch ökologisch. In allen Bereichen, ob Finanzen, Energie, Produktion oder Verbrauch, setzt man heutzutage auf Ressourcenschonung. In allen Bereichen – außer in der IT, wo noch immer das vermeintliche Moore‘sche Gesetz gilt, das Grundprinzip eines unbegrenzten, exponentiellen Weiterwachsens. Historisch gründet sich das Konzept der Nachhaltigkeit auf drei Säulen – Umwelt, Wirtschaft, Soziales. Heutzutage kann aber auch die digitale Komponente nicht mehr außer Acht gelassen werden.
20/02/2020