Ein Supergrid stärkt das Verbundnetz zwischen Frankreich und Großbritannien
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2016 beschlossen der französische Stromnetzbetreiber RTE und sein britisches Pendant National Grid, angesichts des zunehmenden Stromaustauschs zwischen Frankreich und England ein Seekabel zur Hochspannungs-Gleichstromübertragung (HGÜ) zu verlegen (Projekt IFA2). Ein Gespräch zwischen Christian Cartalas, Geschäftsführer VINCI Energies Transport et Transformation d‘Energie, und Arnaud Gautier, BU-Leiter Omexom Major Projects, der Business Unit von VINCI Energies, die einen Teil dieser Infrastruktur errichtet hat.
Vor welchem Hintergrund findet das Projekt IFA2 statt?
Christian Cartalas: Pro Jahr verbrauchen die 500 Millionen Europäerinnen und Europäer 3.200 TWh Strom, und alle wollen eine wettbewerbsfähige, sichere und nachhaltige Stromversorgung. Es gibt immer mehr Verbundprojekte, um die verschiedenen Netze in Europa miteinander zu verbinden, die Netzstabilität insgesamt zu verbessern und Möglichkeiten zum Austausch elektrischer Energie zu schaffen. Jeder Betreiber muss seine Netze managen und unterhalten. Außerdem muss er sie an den wachsenden Anteil der erneuerbaren Energien am Strommix anpassen, ein wesentlicher Faktor der Energiewende. Die Gebietskörperschaften fordern die Entwicklung von Hypergrids und die Verknüpfung mit den Nachbarn, um vom starken Wachstum der Wind- und Solarenergie zu profitieren. Auch die Europäische Union drängt zur Verdoppelung der bestehenden Netzverbindungen. Das Projekt IFA2 nutzt die Tatsache, dass sich die Produktionsanlagen diesseits und jenseits von Ärmelkanal und Nordsee gegenseitig ergänzen. Es stärkt den Energiemix und erlaubt den zielgerichteten Einsatz der verschiedenen Produktionsquellen in Abhängigkeit vom Bedarf der unterschiedlichen Länder.
Arnaud Gautier: Dieses Seekabel soll Ende 2020 in Betrieb gehen. Bei einer Nennspannung von ± 320 kV Gleichstrom kann zwischen den beiden Ländern eine Leistung von knapp 1 GW übertragen werden. Ein Gigawatt entspricht der Leistung eines Kernreaktors und dem Verbrauch von 500.000 Haushalten. Dank IFA2 kann Frankreich seine Produktionsüberschüsse exportieren, kostengünstig Strom importieren, um Angebot und Nachfrage im Land auszutarieren, und den Einsatz der erneuerbaren Energien fördern. Die Standorte von Solar- und Windkraftwerken sind bisweilen weit von den Verbrauchszentren entfernt. Die Erzeugung ist unsteter und weniger planbar als bei herkömmlichen Kraftwerken. Deshalb muss die Energie schnell und in großer Menge über die neuen Stromautobahnen transportiert werden können, um gegenüber den Verbraucher_innen eine gleichbleibend hohe Versorgungsqualität zu gewährleisten.
Wie konnte sich Omexom vom Wettbewerb abheben?
C.C.: Wir sind in unserem Kerngeschäft, Netzinstandhaltung, Freileitungs- und Erdkabelbau, Modernisierung und Digitalisierung von Schaltanlagen hervorragend aufgestellt. Jetzt positioniert sich Omexom auch auf dem Verbundnetzmarkt. IFA2 ist hier das erste große Referenzprojekt, für das wir 2017 in einer Arge mit VCF TP Lyon den Zuschlag bekamen. Bei dem Projekt bauen wir die Konverterstation zur Umformung von Wechsel- in Gleichstrom. Sie entsteht in der Normandie nahe der Stadt Caen. Als Haupt-Subunternehmer von ABB sind Omexom und VINCI Construction für die Planung von Tiefbau und Building Services sowie für die Ausführung sämtlicher Bau- und Montagearbeiten zuständig.
Das große Vertrauen, das der französische Stromnetzbetreiber RTE VINCI Construction entgegenbringt, sowie die Marktführerschaft von Omexom waren die wichtigsten Argumente für ABB, um den Zuschlag zu erhalten. Wegen der sehr hohen vertraglichen und operativen Anforderungen ist das Marktumfeld schwierig. Aber aufgrund unseres breiten Know-hows haben wir nicht nur einen guten Überblick, sondern gleichzeitig auch sehr detaillierte Kenntnisse über solche HGÜ-Anlagen. So konnten wir uns einen hervorragenden Ruf erarbeiten. Es handelt sich für VINCI um das erste Projekt dieser Art in Europa. Eine wichtige Referenz für den gesamten Konzern, wenn es um den Bau und die Ausrüstung von Konverterstationen geht.
A.G.: 2018 haben wir mit dem Bau begonnen, anderthalb Jahre lang waren etwa hundert Mitarbeitende damit befasst. Wir haben ein BIM eingesetzt, ein digitales Modell von VINCI Energies, um bei dieser Großbaustelle ein effizienteres, agileres Arbeiten zu ermöglichen. So konnten wir bereits während der Planungsphase Schnittstellenprobleme zwischen den vielen verschiedenen Gewerken erkennen. Außerdem vereinfacht die Anwendung Digital Site die Bauüberwachung: Die Überwachungsteams wurden mit Tablets ausgestattet, um vor Ort die Daten aus der Qualitätskontrolle zu erfassen. Überdies haben wir beim Projekt IFA2 so genannte Lean Management-Methoden umgesetzt, mit denen wir in jeder Projektphase die Einsatzplanung aller Beteiligten optimieren. Dazu wird ermittelt, welche Arbeiten gleichzeitig stattfinden können. Die Leitungstests sollen entsprechend eines von der Europäischen Union vorgegebenen Zeitplans im Juni 2020 beginnen und zum Jahresende in den operativen Betrieb münden.
Welche Zukunftsperspektiven hat der Konzern auf diesem Markt?
C.C.: Unser Ziel ist es natürlich, nach diesem ersten Projekt weitere HGÜ-Aufträge zu erhalten, und zwar nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa, wo Omexom ebenfalls bereits gut vertreten ist. Wir müssen in diesem Wachstumssegment weiter präsent bleiben, denn in den nächsten Jahren sind dort Investitionen im zweistelligen Milliardenbereich geplant. Die europäische Forderung zur Erhöhung des Anteils der erneuerbaren Energien am Strommix und die erwarteten Zuwächse bei der Stromübertragung haben langfristige Auswirkungen: Die Betreiber werden massiv in den Ausbau des Verbundnetzes und ihrer eigenen Netze investieren. In den nächsten zehn Jahren plant RTE eine Investitionssteigerung, teilweise auch zur Verknüpfung mit anderen Netzen, um 1,5 bis 2,3 Mrd. Euro pro Jahr.
A.G.: Es gibt bereits zahlreiche Verbundprojekte zwischen Ländern mit gemeinsamen Binnengrenzen. Hier kommen Freileitungen zum Einsatz. Ähnliche Projekte wie IFA2 sind bei RTE in Planung, insbesondere zwischen Frankreich und Spanien durch die Biscaya oder zwischen der Bretagne und Irland. Um diese Verbindung unter dem Ärmelkanal hindurch zu realisieren, haben wir Kompetenzen des VINCI-Konzerns eingesetzt, die sich hervorragend ergänzen. Wir verfügen jetzt über umfassende Erfahrungen für die nächsten Projekte, die in diesem Bereich rund um den Globus in Planung sind, und werden damit zu einem unumgänglichen Anbieter für Netzverbundlösungen.
23/07/2020
Ein Supergrid unter dem Ärmelkanal
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