Ein Städtebau-Projekt im Quartier „Les Lumières Pleyel“ in Saint-Denis (bei Paris) dient dem Umweltforschungslabor „Lab Recherche Environnement“ als Versuchsfeld. Weiterer Partner ist der Industriedemonstrator für die nachhaltige Stadt „Rêve de scènes urbaines“ (RSU). Ziel war es, mittels eines Planungstools, der Lebenszyklusanalyse, die ökologischen Auswirkungen der Mobilität im Alltag zu ermitteln.
Kräne, Betonmischer, Bohrgeräte – das Quartier Les Lumières Pleyel in Saint-Denis nördlich von Paris wird grundlegend umgestaltet. Eine riesige Baustelle – es entsteht ein Umsteigebahnhof für die neuen Metrolinien 14, 15 und 16 des Projekts „Grand Paris“ sowie das Olympische Dorf für die 2024 in Paris stattfindenden Sommerspiele. Doch damit nicht genug.
Seit September 2019 findet in dem Stadtviertel ein wissenschaftlicher Feldversuch statt. Das „Lab Recherche Environnement“, eine Forschungspartnerschaft zwischen VINCI und dem Hochschulcluster ParisTech, möchte Instrumente für die ökologische Stadt- und insbesondere Verkehrsplanung entwickeln.
„Das Lab Recherche Environnement beschäftigt sich bereits seit 10 Jahren mit der Planung umweltfreundlicher Gebäude1. Auf Grundlage dieser Erfahrungen arbeiten wir jetzt an neuen Tools, diesmal im Bereich Mobilität“, unterstreicht Dr. Cyrille François, Wissenschaftler und Dozent an der Hochschule Ecole des Ponts ParisTech und im Umweltlabor Lab Recherche Environnement.
Mehr als CO2
Im Zentrum steht die Lebenszyklusanalyse (LZA). Mit diesem Instrument werden über die gesamte Lebensdauer der Produkte hinweg die Stoff- und Energieströme erfasst – Rohstoffgewinnung, Verteilung, Nutzung, Müllabfuhr und Abfallentsorgung – und dann deren mögliche Umweltauswirkungen bewertet2.
„Unsere erste Feststellung ist, dass wir die Lebenszyklusanalyse nicht auf das CO2 in den Abgasen beschränken dürfen. Auch wenn der innerstädtische Pkw-Verkehr noch immer für 80 % der Treibhausgasemissionen (in CO2-Äquivalent) steht, gibt es auch andere Verschmutzungsquellen“, so François.
Aber vor und nach einer solchen Fahrt müssen weitere Faktoren berücksichtigt werden, etwa die Kraftstofflogistik, die Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen zur Erzeugung von Biokraftstoff oder die Batterieherstellung. „Hinzu kommen heutzutage digitale Dienste wie automatisierte Systeme oder die Datenübertragung.”
Diskrepanzen bei der Mobilitätsnutzung
Ab 2024 soll das Quartier Les Lumières Pleyel Raum für 1.111 Bewohner:innen und 8.000 Büroangestellte bieten. „Die Herausforderung besteht für uns in der Analyse der Verkehrsstatistik und der Mobilitätsnutzung für eine Bevölkerung, die es so noch gar nicht gibt!“, erläutert der Forscher.
Wie ist das möglich? Zunächst wurden die sozioökonomischen Profile der Bürger:innen untersucht, die in dem Viertel leben und arbeiten werden. So konnten ihre Nutzungsgewohnheiten abgeschätzt werden. Dann haben sich die Forschenden mit ihrer Mobilitätsnutzung befasst. Dabei galt es, Anwohner:innen und Berufspendler:innen getrennt voneinander zu betrachten. Auf dieser Grundlage wurden die ökologischen Auswirkungen dieser Fahrten ermittelt – unter Berücksichtigung von Individualverkehr, ÖPNV und Infrastruktur.
„Wir gehen davon aus, dass ein:e Anwohner:in pro Tag 1,1 kg CO2-äq produziert, ein:e Pendler:in 1,6 kg. Die Bewohner:innen werden für Kurzstrecken nämlich eher auf „sanfte“ Verkehrsträger zurückgreifen, die Büroangestellten längere Arbeitswege mit dem ÖPNV bewältigen“, erläutert François. Geschätzte Kohlenstoffbilanz des Quartiers: 14,1 t CO2-äq pro Arbeitstag.
„Wenn wir den Mitarbeitenden Anreize für die Bildung von Fahrgemeinschaften oder zur ÖPNV-Nutzung bieten, können wir die Treibhausgasemissionen um 7 % senken.”
Ungewisse Prognosen
Mit diesen Instrumenten wird ermittelt, wie stichhaltig die Stadtplanung ist, und es können auf die lokalen Merkmale zugeschnittene, ökologische Lösungen erarbeitet werden. „Wenn wir den Mitarbeitenden Anreize für die Bildung von Fahrgemeinschaften oder den Kauf von Zeitkarten für den ÖPNV bieten, können wir die Treibhausgasemissionen um 7 % senken.”
Aber die Bewertung wäre unvollständig, wenn sie die Entscheidungsträger:innen nicht auch über gewisse Unsicherheitsfaktoren informieren würde. „Beispielsweise wissen wir noch nicht, wie sich in Zukunft der Radverkehr oder das Batterierecycling entwickelt.”
Deshalb wird der Ansatz mittels des Tools Multi-Agent Transport Simulation Toolkit (MATSim) weiter verfeinert. Auf Grundlage einer Multiagenten-Simulation charakterisiert es die Fahrten jedes Individuums mithilfe seines Musterprofils und von Vorhersagemodellen für die Mobilitätsnachfrage. „Mit diesen neuen Instrumenten können wir passgenau arbeiten und unsere Szenarien noch präziser auf die jeweilige Region zuschneiden“, so François abschließend.
08/07/2021