Patrick Lebrun, stellvertretender Generaldirektor von VINCI Energies, analysiert die Entwicklung von Kompetenzen und Berufen, sowie die neuen Erwartungen seitens der Nachwuchstalente und wie die Unternehmen sich anpassen müssen.
Welche neuen Berufe, Kompetenzen und Profile setzen sich Ihrer Ansicht nach derzeit durch und welche entstehen gerade?
Digitalisierung, Informations- und Kommunikationstechnologien gehören seit Langem zu den Aufgabenfeldern und Angeboten von VINCI Energies. Allerdings erfordert die derzeitige Beschleunigung neue Kompetenzen; sie schafft neue Berufe, insbesondere im Datenmanagement. Gleichzeitig verändern sich Berufsbilder; die Palette der Kompetenzen erweitert sich, z. B. bei der Energiespeicherung.
Von allen Berufen, die es in zehn Jahren in der gesamten Wirtschaft geben wird, gibt es die Hälfte heute noch nicht! Erweiterte Realität, virtuelle Realität, immer komplexere Algorithmen, Künstliche Intelligenz, Datenverwertung, Bildverarbeitung, Hyper-Geolokalisierung nehmen an Bedeutung zu. Alle bei VINCI Energies sind davon betroffen: Die Industrie, genannt 4.0, wird immer digitaler, ebenso die Energie- und Transportinfrastrukturen, insbesondere Smart Grids, Gebäude, öffentliche Anlagen, die Stadt. Heute ist alles smart, das heißt digital!
Aber Vorsicht: Technologie, Algorithmen, Digitaltechnik, das alles macht nur Sinn, wenn es im Dienste des Menschen steht. Um diese Sichtweise zu bekräftigen, haben wir unseren Auftritt bei der letzten Viva Technology im Juni 2018 in Paris unter das Motto „Human Beyond Digital“ gestellt.
Seit einigen Jahren spricht man viel vom „Krieg um Talente“. Würden Sie das genauso formulieren?
Gestatten Sie mir zunächst die Bemerkung, dass der Begriff „Krieg“ für mich eine präzise Bedeutung hat und man ihn nicht überstrapazieren sollte. Allerdings beobachte ich durchaus einen lebhaften Wettbewerb auf unseren verschiedenen Arbeitsmärkten, auch wenn das im Grunde nicht ganz neu ist. Dieser Wettbewerb verschärft sich jedoch derzeit aufgrund der Verknappung bestimmter Kompetenzen, der stärkeren Nachfrage seitens der Unternehmen, der demografischen Entwicklung in einigen Ländern sowie der beschleunigten Energiewende und des digitalen Wandels.
Dieser lebhafte Wettbewerb um die Talente herrscht nicht nur bei der Anwerbung. Die Besten zu gewinnen, ist wichtig, aber sie zu binden, ist es genauso!
Wie würden Sie den Arbeitsmarkt in den Ländern beschreiben, in denen VINCI Energies hauptsächlich tätig ist?
Alle unsere Arbeitsmärkte sind angespannt. Einerseits verbessert sich die allgemeine Wirtschaftslage fast überall; das ist eine sehr gute Nachricht. Andererseits sind unsere Märkte langfristig vielversprechend von Wandel und Beschleunigung geprägt. Bei bestimmten Ländern oder Fachkompetenzen ist die Lage besonders schwierig. In der Schweiz, den Niederlanden und Deutschland herrscht Vollbeschäftigung. In Frankreich bleibt die Arbeitslosigkeit zwar hoch, aber in den Arbeitsmarktsegmenten mit hoher technischer Qualifizierung wie bei VINCI Energies ist die Lage ebenfalls angespannt.
Wie groß ist der Anteil an Frauen bei VINCI Energies?
Der Anteil ist noch viel zu gering (13 Prozent aller Berufe, Funktionen, quer durch die Hierarchie)! Mehr Frauen zu beschäftigen, ist ein dringendes Anliegen – allein schon, weil Frauen die Hälfte der Menschheit ausmachen und es absurd wäre, einen solchen Talentpool zu vernachlässigen. Zudem machen viele unsere Kunden und Partner in diesem Bereich Fortschritte und wir dürfen hier den Anschluss nicht verlieren. Des Weiteren haben zahlreiche vergleichende Studien belegt, dass ein besseres Gleichgewicht bei der Anzahl von Frauen und Männern sich positiv auf die Kreativität, das Wachstum und die Leistung eines Unternehmens sowie auf die Lebensqualität der Belegschaft, das Krisenmanagement und die Unternehmensverantwortung (CSR) auswirkt.
Wir entwickeln uns in diesem Punkt weiter, aber zu langsam. Und ich stelle überrascht fest, dass selbst unser externes Wachstum das Gleichgewichtsprofil Mann/Frau nicht beeinflusst, obwohl der Konzern sich durch zahlreiche Unternehmenszukäufe auch in neuen Ländern deutlich verändert.
Unter den Erwartungen der jungen Berufsanfänger ist das Gehalt nicht mehr allein ausschlaggebend …
Richtig. Die Stimmung und Lebensqualität am Arbeitsplatz, ein interessanter Arbeitsinhalt, die Werte, das Management, die persönliche Entwicklung, die Work-Life-Balance … Vor 30 Jahren wollte man Karriere machen. Heutzutage sucht man eine Lebenserfahrung in einer sinnvollen Arbeit, in der man sich selbst verwirklichen kann. All das ist wesentlich, nicht nur für junge Menschen. Doch das Gehalt sollte man nicht vergessen; hier gilt „sowohl als auch“.
Was hat sich in diesem Punkt bei VINCI Energies konkret geändert?
Wir bemühen uns um unsere Arbeitswerkzeuge, unsere Räumlichkeiten, Fortbildungen der MitarbeiterInnen sowie das Management unserer Unternehmen. Dreh- und Angelpunkt hierbei ist unser „gemeinsames Strategieprojekt“. Rein vertikales Management war gestern; junge Fachkräfte erwarten heute partizipative und kollaborative Arbeitsweisen. Unser Unternehmensmodell – vernetzt, in überschaubarer Größe – eignet sich bestens für den Führungsstil des 21. Jahrhunderts. Das auszubauen, macht uns als Arbeitgeber attraktiv. Aber dieses Versprechen muss man auch einlösen: Wir müssen nachhaltige und sinnvolle Karrierepfade anbieten, die langfristig motivierend und erfüllend sind.
Welchen Stellenwert haben soziale Kompetenzen, die sogenannten Soft Skills, im Vergleich zu rein technischen Fähigkeiten in Ihrer Einstellungspolitik?
Die Verhaltenskompetenzen sind vor allem in der Dienstleistung, wo man im Team oder im Projektmodus arbeitet, von großer Bedeutung. Aufmerksamkeit, Großzügigkeit, Solidarität tragen zur Entwicklung der kollektiven Intelligenz bei. Mit hyperindividualistischen kleinen Genies kann man heute nicht mehr gewinnen … Die jüngste Einstellungskampagne von VINCI fußt gerade auf Soft Skills mit der Aufforderung an alle, die „zu ehrgeizig, zu draufgängerisch, zu kreativ, zu neugierig, zu großzügig“ sind, sich zu bewerben.
Aber auch hier gilt: sowohl als auch! In einem Konzern wie VINCI Energies, aus dessen Angebot Technologie angesichts des Wandels nicht wegzudenken ist, brauchen wir auch Talente, die die neueste Technik beherrschen.
Gerade Technologien, Kompetenzen, Berufsbilder, Märkte … Alles verändert sich immer schneller. Wie bindet man diese Dimension in die Unternehmensführung ein?
Das Stichwort lautet „Agilität“ und verweist auf die Organisation von VINCI Energies. Unser Konzern beschäftigt 75.000 Menschen; wir machen etwas mehr als 10 Milliarden Euro Umsatz. Aber unser Markenzeichen und einer unserer Erfolgsfaktoren besteht darin, dass wir diese besondere Struktur beibehalten haben: eine Flotte kleiner Schiffe anstelle eines großen Flugzeugträgers, selbständige Unternehmen in überschaubarer Größe, flexibel, reaktionsschnell, wendig und sehr nah am Kunden.
Das ist einer der Schlüsselfaktoren, genau wie die Beschleunigung unserer Innovationsprozesse, die Integration neuer Arbeits- und Managementmethoden in der Beziehung zu unseren Lieferanten, die selbst viel innovieren.
Aber ein weiterer Faktor ist ebenfalls von größter Bedeutung: die Weiterentwicklung von Kompetenzen, unsere Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung. Noch nie gab es so viele, aber wahrscheinlich müssen wir sie noch weiter verstärken; die neuen Ausbildungsformate werden dazu beitragen. Dafür zu sorgen, dass alle unsere Unternehmen dazulernen, jeder einzelne Mitarbeiter fortlaufend neue Kompetenzen erwirbt und anwendet, auch im Arbeitsalltag, das ist eine entscheidende Voraussetzung für den Erfolg von morgen.
Inwiefern beeinflusst die Beschleunigung des digitalen Wandels Ihre Strategie zur Zusammenarbeit mit Bildungseinrichtungen?
Hier gibt es einen zweifachen Ansatz. Die Einrichtungen, deren Absolventen wir üblicherweise rekrutieren, entwickeln ihre Unterrichtsprogramme weiter und integrieren z. B. Komponenten wie Künstliche Intelligenz oder Cybersicherheit. Des Weiteren entwickeln wir selbst neue Partnerschaften in Frankreich, in Europa, weltweit – mit Universitäten und Schulen, zu denen wir bislang kaum eine oder keine Verbindung hatten, und deren Ausbildungsprogramme auf Zukunftsberufe ausgerichtet sind. Dafür gibt es bei VINCI Energies gute Beispiele u. a. in den Niederlanden, Portugal, Deutschland, Marokko, Belgien oder auch in Frankreich mit dem Campus Marseille, Rennes und natürlich auch in der Region Île-de-France.
Ein Schlusswort?
In der Geschichte von VINCI Energies hat sich Innovation stets als Wachstumstreiber für unsere Unternehmen erwiesen. Innovation macht unsere Angebote attraktiv und ist ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal. In einer sich immer schneller wandelnden Welt ist die Innovation für uns mehr denn je eine große Chance. Um sie voll und ganz zu nutzen, müssen wir fortlaufend die Fähigkeiten unserer MitarbeiterInnen erweitern und sie für neue Kompetenzen begeistern.
Dafür brauchen wir Fortbildungsmaßnahmen in noch nie dagewesenem Umfang, neue Berufsprofile, die es zu integrieren gilt, und die Fähigkeit uns weiterzuentwickeln. Dazu gehört wie bisher auch, viele junge Menschen in unseren Unternehmen aufzunehmen und auf jeden Fall mehr Frauen in unsere Teams zu bringen. Nur so können wir diese Herausforderung – neue Kompetenzen und Berufe, Kreativität und Innovation – meistern und in der Welt von morgen erfolgreich sein.
13/12/2018